Die St. Georgener Frühmesse oder's Hinterberger Moidele

Noch vor nicht allzu langer Zeit gab's in den Tiroler Bauernhäusern keine andere Beleuchtung als den Kienspan oder höchstens eine Unschlittkerze und selbst mit dieser wurde sparsam umgegangen. Im Sommer saß man abends im Dunkelwerden vor dem Hause, im Winter wärmte man sich in der Stube, wo das "Kemmifuir" brannte. Das Feuerchen wurde mit Kienholz unterhalten und spendete so Wärme und Licht für die Stube. Die Mägde spannen den feinsten Leinenfaden bei diesem kleinen Lichtlein, die Bäuerin strickte oder flickte für die Familie und der Bauer las oft aus der Legende den Heiligen des Tages vor. Die Knechte machten Kienspäne, wetzten die Messer, Stemm- und Hobeleisen, benagelten die Schuhe und taten, was sonst noch an kleinen Arbeiten anfiel.

"Jörg, schlåfsüt?"
"Warum denn?"
"Es wird ålleweil dunkler, du vergisüt gånz aufs Kemmifuir, ich siech båld nimmer!"
"Eh, Moidele, i werd' dir glei a kienigs Breckl ånlegn. Woasüt Moidele, du bisüt hålt a kua huiriger Hås mehr. I glab nit, dass des Fuir die Schuld håt, i moan, deine Augn håbn o a bißl Schuld, dass du nimmer guat siehsüt", meinte Jörg.
"Jörg, wenn der Mensch ålt wird, tuat man ihm nit seine Fehler und Gebrechn vorhålten; des Gleiche kånn spater a dir passiern", entgegnete der Bauer, das geweihte Buch schließend.

"Die Kerze anzüntn! Audeckn! Zum Essen isü's!" rief die Bäuerin von der Kuchl herein und die ganze Bewohnerschaft bekam neues Leben, denn feiner Geruch strömte aus der Küche. Heut' war Samstagabend, da gab's etwas Besseres zum Essen, und noch dazu war heut des Bauern Namenstag, da wurde immer extra aufgetischt. "Herrschaft, schmecken die Zwetschkenprovesen mit Honigwasser gut! Wenn nur gerade der Bauer mehrere Heilige zu Patronen hätte!"

Nach dem Essen knieten alle, Bauer und Bäuerin, Kinder und Dienstboten, Störarbeiter und über Nacht bleibende Handwerksburschen zu den Sitzbänken und beteten dem Vorbeter nach. Hernach saß man noch ein Weilchen, bis die Weiberleut in der Küche fertig aufgeräumt hatten und im Stalle nochmals nachgesehen war, beim Kemmifuir. Man erzählte sich die Vorkommnisse der letzten Zeit, besonders die Handwerksburschen mussten als Weitgereiste berichten, besprach die Arbeiten der kommenden Woche, flocht dort und da eine Geister-, Räuber- oder Hexengeschichte ein und ging frühzeitig zu Bette. Eine Uhr gab's auch noch nicht, und die aus Brettern zusammengenagelte Sanduhr blieb oftmals stecken. In der Früh war der Hahn der Wecker fürs ganze Haus.

Wer früh zu Bette geht, ist auch früh aus den Federn und hauptsächlich das Hinterberger Moidele huldigte dem Grundsatz: Vormitternachtsschlaf ist der gesündeste. Sie war heute eine der ersten, die das Bett aufsuchte, wollte sie doch morgen, Sonntag, die Frühmesse besuchen. Bauer und Bäuerin wollten mit den Kindern zum Spätgottesdienst gehen. Mit dem Rosenkranz in der Hand schlief sie ein.

Der Hahn hatte noch nicht gekräht, und doch war 's Moidele schon wach und vollständig ausgeschlafen, trotz aller gestriger Müdigkeit. "Wenn's nåch mir geat, dann isüt schon Zeit zur Frühmess", meinte sie, stand auf, bekleidete sich mit dem schweren Wifli und der Fazzlkapppe, beides noch Stücke von ihrer Mutter - Gott habe sie selig -, die diese Kleider zu ihrer Hochzeit von der Gotl als Brautgeschenk erhalten hatte, und verließ das Haus zu Hinterberg, um zur Pfarrkirche nach St. Georgen zu gehen. "I muan, i bin går schua a bißl spat drun, der Geisütliche Herr håt a schu 's ganze Haus dunkl; åber, dass i ihn nit vorbei gien håb gheart? Jå, i hun hålt an schwarn Schlåf g'håbt, die letzt' Woch wår's mit der Årbat a bißl streng." - Die Pfarrherren wohnten damals beim Teich in Hinterberg, das Dorf Telfs bestand aus wenigen Häusern.

Den Rosenkranz in den Händen, wanderte sie weiter gegen St. Georgen. Kein einziger Vogel ließ sich hören. "Gibt's går wieder schlecht Wetter?" Gar nicht Tag werden wollte es. Doch als sie den ersten Ausblick aus dem Walde gegen die Pfarrkirche hatte, sah sie, dass dieselbe hell erleuchtet war. "O jessas, o jessas, bin i wirkli schua z'öpat drun, hun i hait wirkli verschlåfn! Jå, jå, der Jörg hat recht, i bin nimmer jung!"

Sie betrat die St. Georgenkirche und Schloss hinter sich die Tür. Kein Mensch war hier, aber alles war sonderbar hell beleuchtet, heller als bei der Mette in der Christnacht, und doch brannten nur die Kerzen am Hochaltar. Von außerhalb der Kirche konnte sie geheimnisvolles, eigenartiges Beten von Andächtigen vernehmen, die keine Menschen sein konnten. Es öffnete sich die Kirchtür. Kalter Wind strich durch den Gang, die Kerzenlichter drohten zu verlöschen, doch flammten sie wieder um so heller auf. Herein traten Menschengestalten, weiß gekleidet, das Gesicht bleich und verschleiert, in der linken Hand ein Lichtlein, lautlos in Schritt und Bewegung. Kalt, eisig kalt ging's durch die Tür herein, trotzdem dass es Sommer war. Moidele hatte das Kreuz ihres Rosenkranzes fest in die Hand genommen - "Herr gib ihnen die ewige Ruah!" betete sie. "Das sind die armen Seelen!" Kalter Schweiß bedeckte Moideles Gesicht und Hände und doch schaute sie jeder Geistergestalt entgegen. Sie konnte die letzte aus der Geisterprozession erkennen, es war ihre letzthin verstorbene Freundin.

"Moidele, geh heim, jetzt ist nicht die Zeit für dich zum Beten, jetzt ist die Geisterstund, die Stunde für die armen Seelen. Komm du zur Frühmesse und bete für mich und für uns alle, dann werden wir bald erlöst sein. Da, nimm das zum Andenken an mich!"

Moidele verließ die Kirche, sprengte Weihwasser auf den Friedhof und betete für alle, die sie jetzt gesehen, eilte heim und betete noch lange, lange auf den Knien vor ihrem Bette, bis endlich der Hahn krähte. Dreimal hatte sie den Psalter gebetet, fast hätten sie die Knie geschmerzt.

Mit dem Hahnenschrei wurde es im Hause lebendig und ganz Hinterberg kam allmählich aus den Häusern, selbst der Pfarrherr hatte die Tür zugeschlagen, als wollte er seine Pfarrkinder wecken. 'S Moidele litt es auch nimmer länger im Haus. Mit neuem Eifer wanderte sie wieder nach St. Georgen, froh darüber, dass sich niemand zu ihr gesellte, denn der Geisterzug hatte ihre Sinne befangen. Der Morgen graute, und als sie wieder die Pfarrkirche durch den Wald erblickte, läutete die Glocke das erste Zeichen.

Was hatte der Geist zur Mitternacht gesagt: "Moidele, geh jetzt heim, jetzt ist nicht die Zeit für dich zum Beten, jetzt ist die Geisterstund', die Stunde für die armen Seelen; komm du zur Frühmesse und bete für mich und für uns alle, damit wir bald erlöst werden. Da nimm das zum Andenken an mich!" In der Kirche wollte sie das Andenken ihrer Freundin besehen.

Nach der Frühmesse zog es Moidele aus ihrem Kittelsack, es war ein Taschentuch, weiß und sauber, aber die fünf Finger des Geistes waren am Tuche zu sehen, als wären sie eingebrannt vom schrecklichen Feuer der Gottesstrafe. Moidele musste niedersitzen und an der Bank und Mauer sich ein bißchen anlehnen, so erschrocken war sie.

"Moidele, lobe den Herrn, denn wir sind alle erlöst! Auch du wirst bald nachkommen!" So hörte sie deutlich an ihrer Seite reden. 'S Moidele hörte und sah von dieser Welt aber gar bald nichts mehr - der Geist ihrer Freundin hatte sie abgeholt zur Wanderung ins ewige Jenseits. Den Frieden in den Gesichtszügen und den Rosenkranz in der Hand, war sie entschlummert in ihrem lieben Kirchlein zu St. Georgen.


Quelle: Mei'r Huamat, Marktgemeinde Telfs, 1997

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